Albert Schweitzer: Das Problem des Friedens in der heutigen Welt

Frieden, Friedensliteratur
Frieden in der Welt, Friedensliteratur

Albert Schweitzer: Das Problem des Friedens in der heutigen Welt.

Rede bei der Entgegenahme des Nobelpreises in Oslo 1954

Als Gegenstand des Vortrags, den zu halten mir als Empfänger des Nobel-Friedenspreises obliegt, habe ich das Problem des Friedens gewählt, wie es sich in der heutigen Zeit darstellt. Ich glaube damit im Sinne des hochherzigen Stifters zu handeln, der sich eingehend mit dem Problem beschäftigte, wie es zu seiner Zeit bestand, und von seiner Stiftung erwartete, dass es das Nachdenken über die Möglichkeit, die Sache des Friedens zu fördern, wach halte.

 

Seinen Ausgang nehme mein Vortrag von einer Darlegung der Situation, wie sie auf Grund der beiden hinter uns liegenden Kriege gegeben ist.

 

Die Staatsmänner, die in den auf die beiden Kriege folgenden Verhandlungen die heutige Welt gestalteten, hatten keine glückliche Hand. Sie gingen nicht darauf aus, Zustände zu schaffen, die die Möglichkeit einer einigermaßen gedeihlichen Zukunft in sich trügen, sondern waren vor Allem damit beschäftigt, die Konsequenzen aus der Tatsache des Friedens zu ziehen und festzulegen. Auch wenn sie eine bessere Einsicht gehabt hätten, hätten sie sich von ihr nicht leiten lassen dürfen. Sie hatten sich als Vollstrecker des Willens der Siegervölker zu betrachten. Erwägungen über eine gerechte und zweckmäßige Gestaltung der Dinge durften sie nicht Raum geben. Sie hatten genug damit zu tun, zu verhindern, dass nicht das Übelste, was als Forderung des siegreichen Volkswillen auftrat, Tatsache wurde. Auch darum hatten sie sich zu bemühen, dass sich die Sieger, dort.wo ihre Ansichten und Interessen auseinander gingen, gegenseitig die erforderlichen Zugeständnisse machten.


Das Unhaltbare der Situation, wie es nun nicht nur die Besiegten, sondern auch die Sieger zu erfahren bekommen, hat seinen eigentlichen Grund darin, dass man dem geschichtlich Gegebenen und damit der Gerechtigkeit und Zeckmäßigkeit nicht die gebührende Geltung zugestand.


Das geschichtliche Problem Europas ist in der Tatsache gegeben, dass in früheren Jahrhunderten, vor allem von der sogenannten Völkerwanderung an, Völker aus dem Osten fort und fort nach dem Westen und dem Südwesten vordrangen und mit wechselndem Erfolg Land in Besitz nahmen. So kommt es zu einem Zusammenwohnen später zugezogener mit früher eingewanderten Völkern.


Frieden und materielle Sicherung
Frieden in der Welt, Friedensliteratur

Im Laufe der Jahrhunderte findet dann teilweise eine Verschmelzung dieser Völker statt. Es grenzen sich neue, einigermaßen einheitliche Staatengebilde gegeneinander ab. Durch diese Entwicklung wird für den westlichen und mittleren Teil Europas ein in der Hauptsache definitiver Zustand erreicht. Dieser Prozess findet im 19. Jahrhundert seinen Abschluss.

 

Im Osten und Südosten ist diese Entwicklung nicht so weit gediehen. Hier blieb es bei einem Zusammenwohnen von nicht miteinander verschmelzenden Völkerschaften. Jede kann ein relatives Recht auf den Boden für sich im Anspruch nehmen. Die eine kann dafür anführen, die älteste oder zahlreichste Bewohnerin zu sein, die andere die Verdienste, die sie sich um die Entwicklung des Landes erworben hat. Die einzige praktische Lösung wäre gewesen, dass die beiden Elemente dazu gekommen wären, nach einem sich ausbildenden, für beide annehmbaren Abkommen miteinander auf demselben Boden in einem gemeinsamen Staatswesen zu leben. Diesen Zustand hätten sie aber vor dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts erreichen müssen. Denn von da an beginnt eine immerfort sich verstärkende, folgenschwere Ausbildung des nationalen Selbstbewusstsein. Dieses erlaubt es den Völkern nicht mehr, sich von den geschichtlichen Tatsachen und von der Vernunft führen zu lassen.


So hatte der erste Weltkrieg seine Ursache in den im östlichen und südöstlichen Europa gegebenen Verhältnissen. In der Neuordnung, wie sie sich nach den beiden Weltkriegen ergab, ist dann weiterhin Stoff zu einem künftigen Krieg erhalten geblieben.

 

Stoff zu künftigen Kriegen bleibt da erhalten, wo bei einer Neugestaltung der Verhältnisse nach einem Krieg nicht das geschichtlich Gegebene in Betracht gezogen und eine im Sinne desselben sachliche und gerechte Lösung erstrebt wird. Denn nur diese kann die Gewähr des Dauerhaften in sich tragen.

 

Über das geschichtlich Gegebene setzt man sich hinweg, wenn man in dem Falle, wo zwei Völker miteinander geschichtliches Recht auf ein Land haben, nur das des einen anerkennt. Die Rechtstitel, die solche Völker in strittigen Gebieten in Europa für den Besitz des Landes geltend machen können, sind immer nur relative. Beide sind ja erst zu geschichtlicher Zeit eingewandert.

 

Einer Außerachtlassung des geschichtlich Gegebenen macht man sich auch schuldig, wenn man bei der Abgrenzung von neu geschaffenen Staatsgebilden den wirtschaftlichen Tatsachen nicht ihr Recht lässt. Diesen Fehler begeht man, wenn man eine Grenze in der Art fest legt, dass durch sie ein Hafen sein ihm natürlich zugehöriges Hinterland verliert oder dass eine Scheidewand zwischen dem Gebiete der Hervorbringung von Rohprodukten und dem für ihre Verarbeitung tauglichen und eingerichteten Orte aufgerichtet wird. Durch solch ein Verfahren entstehen Staatengebilde, die nicht in der erforderlichen Weise wirtschaftlich lebensfähig

sind.

 

In schlimmster Weise vergeht man sich gegen das Recht des geschichtlich Gegebenen und überhaupt gegen jedes menschliche Recht, wenn man Völkerschaften das Recht auf das Land, das sie bewohnen, in der Art nimmt, dass man sie zwingt, sich anderswo anzusiedeln. Dass sich die Siegermächte am Ende des Zweiten Weltkrieges dazu entschlossen, vielen Hunderttausend Menschen dieses Schicksal, und dazu noch in der härtesten Weise, aufzuerlegen, lässt ermessen, wie wenig sie sich der ihnen gestellten Aufgabe einer gedeihlichen und einigermaßen gerechten Neuordnung der Dinge bewusst wurden.

 

Überaus bezeinend für die Lage, in der wir uns nach dem zweiten Weltkrieg befinden, ist, dass auf ihn kein Friedensschluss folgte. Nur in Abkommen, die den Charakter von Waffenstillständen hatten, kam er zu Ende. Weil wir einer auch nur einigermaßen befriedigenden Neuregelung der Dinge nicht fähig sind, müssen wir uns mit solchen von Fall zu Fall geschlossenen Waffenstillständen , von denen niemand weiß, was aus ihnen wird, zufrieden geben.

 

Frieden und Sicherung der Gemeinschaft
Frieden in der Welt, Frieden und materielle Sicherung

Dies die Lage, in der wir uns befinden.

Wie nun stellt sich uns das Problem des Friedens?

 

Es ist insoweit von besonderer Art, als der Krieg, wie er heute vor sich ginge, etwas Anderes ist als der frühere. Er wird mit ungleich größeren Mitteln des Tötens ud Zerstörens geführt als jener, und ist also ein größeres Übel, als er je gewesen ist.

 

Früher konnte der Krieg als ein Übel angesehen werden, das als dem Fortschritt dienlich, vielleicht gar für ihn notwendig, hinzunehmen sei. Die Ansicht durfte sich hören lassen, dass durch ihn die tüchtigeren Völker sich gegen die weniger tüchtigen durchsetzten und den Gang der Geschichte bestimmten.

 

Dafür lässt sich zum Beispiel anführen, dass durch den Sieg des Cyrus über Babylon ein Weltreich mit einer überlegenen Kultur im vorderen Orient entstand und dass dann wiederum der Sieg Alexander des Großen über die Perser der griechischen Kultur den Weg durch die Länder vom Nil bis zum Indus bahnte. Umgekehrt ereignete sich aber auch als Folge eines Krieges, dass eine höhere Kultur durch eine weniger hohe verdrängt wurde.  Dies gescah, als die Araber im Verlaufe des 7. und zu Beginn des 8. Jahrhunderts die Herren von Persien, Kleinasien, Palästina, Nordafrika und Spanien wurden, wo bisher die griechisch-römische Kultur geherrscht hatte.

 

Es verhält sich mit dem Kriege wohl so, dass er sowohl für den Fortschritt als auch gegen ihn arbeiten kann.

 

Für den modernen Krieg jedoch kann noch mit weniger Zuversicht angenommen werden, dass durch ihn ein Fortschritt zustande kommt. Was er heute als Übel bedeutet, fällt viel schwerer ins Gewicht als früher.

 

Merkwürdig ist, dass man die Tatsache der großen Machtmittel, mit denen er nunmehr geführt wird, am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts günstig werten zu können glaubte. Man wollte daraus folgern, dass die Entscheidung viel schneller als in früheren Zeiten herbei geführt werde und man also mit ganz kurzen Kriegen zu rechnen habe. Das wurde als selbstverständlich angesehen.

 

Das Übel des Krieges glaubte man damals auch deshalb als relativ gering einschätzen zu können, weil man mit einer fortschreitenden Humanisierung des Krieges rechnete. Ausgangspunkt zu dieser Annahme waren die Verpflichtungen, welche die Völker auf Grund der Bemühungen des Roten Kreuzes in der Genfer Konvention von 1864 auf sich genommen hatten. Sie garantierten einander die Pflege der Verwundeten und die humane Behandlung der Kriegsgefangenen. In Aussicht genommen wurde auch weitgehende Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Damit war Bedeutendes erreicht, das in den folgenden Kriegen Hunderttausenden zugute kommen sollte. 

Frieden, materielle Sicherung, Sicherung des Individuums und der kleinen Gemeinschaften
Friedensliteratur zur Förderung des Friedens

Aber in Ansehung des mit den neuzeitlichen Mitteln des Tötens und Zerstörens so maßlos gewordenen Übels des Krieges war es so wenig, dass von einer Humanisierung eigentlich nicht die Rede sein konnte.

 

Miteinander erlaubten die Theorie der Kürze eines kommenden Krieges und die seiner weitgehenden Humanisierung, dass man ihn, als er 1914 Tatsache wurde, im Allgemeinen nicht so schwer nahm, wie es hätte der Fall sein sollen. Man betrachtete ihn als ein die politische Luft reinigendes Gewitter und hoffte, er werde dem Wettrüsten, das die Völker in Schulden gestürzt hatte,ein Ende setzen.

 

Neben leichtfertigen Äußerungen, in denen er um irgendeines erwarteten Vorteils willen gutgeheißen wurde, hörte man auch die ernstere und edlere, dass er der letzte Krieg sein müsse und werde. In der Überzeugung, für das Anbrechen einer Zeit ohne Kriege zu kämpfen, sind damals viele brave Soldaten ins Feld gezogen.

 

In diesem und in dem 1939 ausbrechenden Krieg erwiesen sich die beiden Theorien als völlig unzutreffend. In beiden wurde Jahre hindurch in inhumanster Weise gekämpft und zerstört. Eine Steigerung des Übels fand noch dadurch statt, dass nicht zwei einzelne Völker, wie im Kriege 1870, gegeneinander angingen, sondern zwei große Gruppen von Völkern. So wurde ein großer Teil der Menschheit davon betroffen.

 

Weil offenbar ist, ein wie furchtbares Übel ein Krieg in unserer Zeit ist, darf nichts unversucht bleiben, ihn zu verhindern. Insbesondere muss dies noch aus einem ethischen Grunde geschehen. Wir haben uns in den beiden letzten Kriegen grausiger Unmenschlichkeit schuldig gemacht und würden es in den kommenden noch weiter tun. Dies darf nicht sein.

 

Wagen wir die Dinge zu sehen, wie sie sind. Es hat sich ereignet, dass der Mensch ein Übermensch geworden ist. Sein Übermenschentum besteht darin, dass er auf Grund seiner Errungenschaften des Wissens und Könnens nicht nur über die in seinem Körper gegebenen physischen Kräfte verfügt, sondern auch solchen, die in der Natur vorhanden sind, gebietet und sie in Dienst nehmen kann. Als Mensch konnte er zum Töten auf Entfernung nur die körperliche Kraft verwenden, mit der er den Bogen spannte, um mit ihm den Pfeil zu verschicken. Als Übermensch kommt er dazu, sich die Energie, die bei der raschen Verbrennung eines gewissen Gemisches von chemischen Stoffen frei wird, durch eine dazu erfundene Vorrichtung zunutze zu machen. Dies erlaubt ihm, von einem viel wirksameren Geschoß Gebrauch zu machen und es auf eine viel größere Enfernung zu versenden.

Der Übermensch leidet aber an einer verhängnisvollen geistigen Unvollkommenheit. Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Begriff übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf. Dieser bedürfte er, um von der von ihm errungenen Macht nur zur Verwirklichung des Sinnvollen und Guten, nicht auch zum Töten und Vernichten Gebrauch zu machen. Darum sind ihm die Errungenschaften des Wissens und Könnens mehr zum Verhängnis als zum Gewinn geworden.


Friedensliteratur zur Förderung des Friedens. Frieden, materieller Wohlstand, kleine Gemeinschaften
Friedensliteratur zur Förderung des Friedens. Frieden, materieller Wohlstand, kleine Gemeinschaften

Bezeichnend ist in dieser Hinsicht, dass sich ihm die erste große Entdeckung, die Verwendung der bei rascher Verbrennung entstehenden Explosionskraft, zunächst nur als Mittel zum Töten auf Entfernung anbot. 

 

Die Eroberung der Luft durch den Verbrennungsmotor bedeutete eine große Errungenschaft. Alsbald wird von ihr als einer Möglichkeit zum Töten und Zerstören aus der Höhe Gebrauch gemacht. Damit wird nun vollends offenbar, was man sich vorher nicht recht eingestehen wollte, dass der Übermensch mit dem Zunehmen seiner Macht zugleich immer mehr zum armseligen Menschen wird. Um der Vernichtung aus der Höhe nicht völlig ausgeliefert zu sein, muss er sich, gleich dem Getier des Feldes, in der Erde verkriechen. Zugleich muss er sich darein ergeben, dass nun eine bisher unvorstellbare Vernichtung von Werten statthaben wird.

 

Schließlich ergibt sich als weitere Entdeckung die Kenntnis der bei der Auflösung des Atoms frei werdenden ungeheueren Kräfte und ihrer Verwertbarkeit. Nach einiger Zeit stellt sich dann aber heraus, dass die Zerstörungsgewalt einer vervollkommneten Bombe dieser Art ins Unberechenbare geht und dass bereits ins Große gehende Versuche mit ihr zu Katastrophen führen können, die die Existenz der Menschheit in Frage stellen. Nun erst tut sich das Grauenvolle unserer Existenz vor uns auf, und die Frage, was aus uns werden soll, stellt sich uns unausweichbar.

 

Was uns aber eigentlich zum Bewusstsein kommen sollte und schon lange zuvor hätte kommen sollen, ist dies, dass wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind. Wir haben es geschehen lassen, dass in den Kriegen Menschen in Menge  - im 2. Weltkrieg an die 20 Millionen - vernichtet wurden, dass durch Atombomben ganze Städte mit ihren Einwohnern zu nichts wurden, dass durch Brandbomben Menschen zu lodernden Fackeln wurden. Wir nahmen solche Geschehnisse in Radiosendungen und in Zeitungen zur Kenntnis und beurteilten sie danach , ob sie einen Erfolg der Völkergruppe, der wir zugehören, oder unserer Gegner bedeuteten. Wenn wir uns eingestanden, dass dieses Geschehen aus einem unmenschlichen Tun bestehe, taten wir es mit dem Gedanken, dass wir durch die gegebene Tatsache des Krieges dazu verurteilt seien, es geschen zu lassen. Indem wir uns so ohe weiteres in dieses Schicksal ergeben, machen wir uns der Unmenschlichkeit schuldig.

Die Erkenntnis, die uns heute not tut, ist die, dass wir miteinander der Unmenschlichkeit schuldig sind. Das furchtbare gemeinsame Erlebnis muss uns dazu aufrütteln, alles zu wollen und zu erhoffen, was eine Zeit heraufführen kann, in der Kriege nicht mehr sein werden. Dieses Wollen und Hoffen kann nur noch darauf gehen, dass wir durch einen neuen Geist die höhere Vernünftigkeit erreichen, die uns von dem unseligen Gebrauch der uns zu Gebote stehenden Macht abhält.

 

Der Erste, der es wagte, rein ethische Erwägungen gegen den Krieg geltend zu machen und eine durch ethisches Wollen geleitete höhere Vernünftigkeit zu fordern, war der große Humanist Erasmus von Rotterdam (16.Jahrhundert). Er tat es in seiner 1517 gedruckten lateinischen Schrift Querela Pacis (Klage des Friedens). In ihr lässt er den Frieden redend auftreten und Gehör verlangen.

 

Er fand auf seinem Wege wenig Nachfolger. Es galt als Utopie, von der Geltendmachung einer ethischen Notwendigkeit etwas für die Sache des Friedens zu erwarten. Dieser Ansicht ist sogar Immanuel Kant (18.Jahrhundert). In seiner 1795 erschienen Schrift "Zum ewigen Frieden" und in anderen Veröffentlichungen, in denen er auf die Frage des Friedens zu sprechen kommt, setzt er für dessen Verwirklichung sein Vertauen nur darauf, dass ein Völkerrecht, nach dem eine internationale richterliche Behörde in Steitfällen zwischen Völkern entscheidet, immer größere Autorität erlangt. Diese soll sich allein auf die immer größere Ehrfurcht gründen, die man, aus rein praktischen Erwägungen, dem Rechte als solchem mit der Zeit entgegen bringen werde. Fort und fort betont Kant, dass man für die Idee eines Völkerbundes nicht ethische Gründe anführen solle, sondern sie als eine Sache des zu vervollkommnenden Rechts anzusehen habe. Er meint, dass die Vervollkommnung in einem wie von selbst kommenden Fortschritt statthaben werde. Seiner Ansicht nach wird die "große Künstlerin Natur" durch den Gang der geschichtlichen Dinge und durch die Not der Kriege die Menschen, wenn auch nur ganz allmählich, im Verlauf einer sehr, sehr langen Zeit, dazu bringen, dass sie sich über ein den dauernden Frieden gewährleistendes Völkerrecht einigen werden.

 

Frieden, kleine Gemeinschaften, materielle Sicherung, Platz zum Atmen
Friedensliteratur

Den Plan eines Völkerbundes mit schiedsrichterlichen Befugnissen hat mit einiger Klarheit zuerst Sully (1560 - 1641), der Freund und Minister Heinrich IV von Frankreich, in seinen Memoiren entwickelt. In ausführlicher Weise wurde er dann m 18. Jahrhundert in drei Schriften des Abbé Castel de Saint-Pierre (1658 - 1743) behandelt, deren bedeutendste den Titel "Projet de Paix perpetuelle entre les souverains Chretiens" führt. Kant hatte Kenntnis von den in ihnen vorgetragenen Gedanken. Wahrscheinlich verdankt er sie einer 1761 veröffentlichten Schrift von Jean Jacques Rousseau, in der dieser eine Zusammenfassung derselben bietet.

 

Heutzutage sind wir in der Lage, aus Erfahrung über den Völkerbund in Genf und über die Organisation der Vereinten Nationen  (UNO) reden zu können.

 

Institutionen dieser Art können Bedeutendes leisten, indem sie in entstehenden Streitigkeiten zu vermitteln suchen, die Initiative zu Beschlüssen und zu gemeinsamen Unternehmungen der Nationen ergreifen und was dergleichen wertvolle, zeitgemäße Dienstleistungen mehr sind. Eine der größten Taten des Genfer Völkerbundes war 1922 die Schaffung eines internationale Gültigkeit besitzenden Passes für die durch den Krieg staatenlos gewordenen Personen. In welcher Lage hätten sich diese befunden, wenn der Genfer Völkerbund, von Fridthof Nansen angeregt, sich um diesen Ersatzpass nicht bemüht hätte? Wie wäre es den Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ergangen, wenn es die UNO nicht gegeben hätte, die sich ihrer annehmen konnte.

Aber den Zustand des Friedens herbeizuführen, haben diese beiden Institutionen nicht vermocht. Sie bemühten sich vergeblich darum, weil sie es in einer Welt unternehmen mussten, in der keine auf die Verwirklichung des Friedens gehende Gesinnung vorhanden war. Als juristische Institutionen konnten sie diese Gesinnung nicht schafffen. Dies vermag nur der ethische Geist. Kant hat sich geirrt, als er für das Friedensunternehmen ohne diesen ethischen Geist auskommen wollte. Der Weg, den er nicht beschreiten wollte, muss begangen werden.

Überdies steht uns ja die sehr, sehr lange Zeit, mit der er auf die Hinbewegung auf den Frieden rechnet, gar nicht zur Verfügung. Die Kriege von heute sind Vernichtungskriege, nicht solche, wie er vorraussetzte. Entscheidendes für die Sache des Friedens muss bald in Angriff genommen und geleistet werden. Auch hierzu ist allein der Geist fähig.

Kann aber der Geist wirklich ausrichten, was wir ihm in unserer Not zutrauen müssen? Man darf von seiner Kraft nicht gering denken. Er ist es ja, der sich in der Geschichte der Menschheit betätigt. Er wirkt die Humanitätsgesinnung, aus der aller Fortschritt zur Höheren Daseinsweise des Menschen kommt. In der Humanitätsgesinnung sind wir uns selbst treu; in ihr sind wir fähig, schöpferisch zu sein. In der Gesinnung der Inhumanität sind wir uns selbst untreu und damit allem Irren ausgeliefert.

Zu welcher Macht der Geist es bringen kann, ist im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhundert offenbar geworden. Er hat damals die Völker Europas, unter denen er auftrat, aus dem Mittelalter heraus geführt, indem er dem Aberglauben, den Hexenprozessen, der Folter und so mancher überlieferten Grausamkeit und Torheit ein Ende machte. An Stelle des Alten hat er ein Neues gesetzt, welches den, der dieses Geschehen verfogt, immer wieder erstaunen lässt. Was wir an wahrer innerlicher Kultur je besessen haben und noch davon besitzen, geht auf jenes Auftreten des Geistes zurück.

In der Folgezeit hat er dann an Kraft eingebüsst, hauptsächlich, weil er in der Welterkenntnis, wie sie sich aus der naturwissenschaftlichen Forschung ergab, sein ethisches Wesen nicht begründen konnte. Ein anderer Geist, der sich über den Weg, auf dem die Menschheit voran kommen sollte, nicht klar war und nur niedrigere Ideale kannte, hat ihn abgelöst. Nun muss er, sollen wir nicht zugrunde gehen, wieder die Führung übernehmen.

 

Friedensliteratur - "Das Problem des Friedens in der heutigen Welt" - Albert Schweitzer
Albert Schweitzer - Friedensliteratur - "Das Problem des Friedens in der heutigen Welt"

Wiederum hat er ein Wunder zu vollbringen, wie zu der Zeit, als er die europäischen Völker aus dem Mittelalter heraus führte, und ein noch größeres als das damalige.

 

Der Geist ist nicht tot. Er lebt in der Verborgenheit. Dass er ohne eine seinem ethischen Wesen entsprechende, wissenschaftlich zu begründende Welterkenntnis sein musste, hat er überwunden. Es ist ihm aufgegangen, dass er sich aus nichts anderem zu begründen hat als aus dem eigentlichen Wesen des Menschen. Die gewonnene Unabhängigkeit von der Welterkenntnis erweist sich ihm als Gewinn.

 

Weiter ist er zu der Einsicht gelangt, dass das Mitempfinden, in dem die Ethik wurzelt, seine rechte Tiefe und Weite nur hat, wenn es nicht einzig auf den Menschen, sondern auf alle lebendigen Wesen geht. Neben die bisherige, der letzten Tiefe und Weite und Überzeugungskraft ermangelnde Ethik ist die der Ehrfurcht vor dem Leben getreten und findet Anerkennung.

 

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Frieden, materielle Sicherung, Platz zum Atmen

Brigitte Prem: Fortschritt geschieht durch Kontakt von Menschen mit Menschen, auch von Menschen verschiedener Kulturen. Durch Krieg wird zerstört. Und heute geschehen Kontakte nicht mehr durch Krieg. Die Obstsorten aus dem Orient, die die Kreuzritter nach Europa brachten, bekamen sie durch Kontakte, nicht durch Mord.

 

So viel Mord früher auch geschah, Atombomben, die auf Generationen hinaus Schaden anrichten, gab es nicht.

 

Zu: "Wir haben es geschehen lassen, dass in den Kriegen Menschen in Menge vernichtet wurden, dass durch Atombomben ganze Städte mit ihren Einwohnern zu nichts wurden, dass durch Brandbomben Menschen zu lodernden Fackeln wurden." Lieber Albert Schweitzer, bei aller Wertschätzung: Ich distanziere mich vom "wir". Ich habe solches nicht getan und nicht zugelassen. Ich würde es auch nicht tun oder zulassen, und du, lieber Albert Schweitzer, wohl auch nicht.


Das 17. und 18 Jahrhundert habe den Menschen aus dem Mittelalter heraus geführt, indem er dem Aberglauben, den Hexenprozessen, der Folter und so mancher überlieferten Grausamkeit und Torheit ein Ende machte. 

Das stimmt schon, nur geschieht mit der Bemerkung dem Mittelalter Unrecht. Hexenprozesse und Folter gab es erst durch die Zentralisierung, die im 16. Jahrhundert, also nach dem Mittelalter ihren Höhepunkt hatte.

Friedensliteratur
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Quellen

Schweitzer, Albert: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Verlag Ch. Beck München 2013