Die Ringparabel

Friedensliteratur-Definition: Toleranz
Salem Aleikum

Lessings Werk ist mit seiner Toleranzidee und seiner Vorstellung, dass alle Menschen gleich an Wert und Würde sind, zur Friedensliteratur zu rechnen:

 

 

   Es eifre jeder seiner unbestochnen
   Von Vorurteilen freien Liebe nach!

 

   Die Ringparabel

 

   Vor grauen Jahren lebt' ein Mann in Osten,
   Der einen Ring von unschätzbarem Wert
   Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein
   Opal, der hundert schöne Farben spielte,
   Und hatte die geheime Kraft, vor Gott
   Und Menschen angenehm zu machen, wer
   In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder,
   Dass ihn der Mann in Osten darum nie
   Vom Finger ließ; und die Verfügung traf,
   Auf ewig ihn bei seinem Hause zu                                       
   Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring
   Von seinen Söhnen dem geliebtesten;
   Und setzte fest, dass dieser wiederum
   Den Ring von seinen Söhnen dem vermache,
   Der ihm der liebste sei; und stets der liebste,
   Ohn' Ansehn der Geburt, in Kraft allein
   Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde. -
 
   So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn,
   Auf einen Vater endlich von drei Söhnen;                            
   Die alle drei ihm gleich gehorsam waren,
   Die alle drei er folglich gleich zu lieben
   Sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit
   Zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald
   Der dritte, - sowie jeder sich mit ihm
   Allein befand, und sein ergießend Herz'
   Die andern zwei nicht teilten, - würdiger
   Des Ringes; den er denn auch einem jeden
   Die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen.
   Das ging nun so, solang es ging. - Allein                           
   Es kam zum Sterben, und der gute Vater
   Kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei
   Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort
   Verlassen, so zu kränken. - Was zu tun? - 
   Er sendet in geheim zu einem Künstler,
   Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes,
   Zwei andere bestellt, und weder Kosten
   Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich,
   Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt
   Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt,                        
   Kann selbst der Vater seinen Musterring
   Nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft
   Er seine Söhne, jeden insbesondre;
   Gibt jedem insbesondre seinen Segen, -
   Und seinen Ring, - und stirbt. -
   Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder
   Mit seinem Ring, und jeder will der Fürst                           
   Des Hauses sein. Man untersucht, man zankt,
   Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht
   Erweislich; -

   Die Söhne
   Verklagten sich; und jeder schwur dem Richter,
   Unmittelbar aus seines Vaters Hand
   Den Ring zu haben. - Wie auch wahr! - Nachdem
   Er von ihm lange das Versprechen schon
   Gehabt, des Ringes Vorrecht einmal zu
   Genießen. - Wie nicht minder wahr! - Der Vater,
   Beteu'rte jeder, könne gegen ihn                                      
   Nicht falsch gewesen sein; und eh' er dieses
   Von ihm, von einem solchen lieben Vater,
   Argwohnen lass': eh' müss' er seine Brüder,
   So gern er sonst von ihnen nur das Beste
   Bereit zu glauben sei, des falschen Spiels
   Bezeihen; und er wolle die Verräter
   Schon auszufinden wissen; sich schon rächen.

   Der Richter sprach: Wenn ihr mir nun den Vater  
   Nicht bald zur Stelle schafft, so weis ich euch
   Von meinem Stuhle. Denkt ihr, dass ich Rätsel
   Zu lösen da bin? Oder harret ihr,
   Bis dass der rechte Ring den Mund eröffne? -
   Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring
   Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen;
   Vor Gott und Menschen angenehm. Das muss
   Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden
   Doch das nicht können! - Nun; wen lieben zwei
   Von Euch am meisten? - Macht, sagt an! Ihr schweigt?      
   Die Ringe wirken nur zurück? und nicht
   Nach außen? Jeder liebt sich selber nur
   Am meisten? - Oh, so seid ihr alle drei
   Betrogene Betrüger! Eure Ringe
   Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring
   Vermutlich ging verloren. Den Verlust
   Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater
   Die drei für einen machen.

   Und also, fuhr der Richter fort, wenn ihr
   Nicht meinen Rat, statt meines Spruches, wollt:                  
   Geht nur! - Mein Rat ist aber der: ihr nehmt
   Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von
   Euch jeder seinen Ring von seinem Vater:
   So glaube jeder sicher seinen Ring
   Den echten. - Möglich; dass der Vater nun
   Die Tyrannei des einen Rings nicht länger
   In seinem Hause dulden wollen! - Und gewiss;
   Dass er euch alle drei geliebt, und gleich
   Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen,
   Um einen zu begünstigen. - Wohlan!                                 
   Es eifre jeder seiner unbestochnen
   Von Vorurteilen freien Liebe nach!
   Es strebe von euch jeder um die Wette,
   Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag
   Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
   Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
   Mit innigster Ergebenheit in Gott
   Zu Hilf'! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
   Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
   So lad ich über tausend tausend Jahre                                
   Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
   Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen
   Als ich; und sprechen. Geht! - So sagte der
   Bescheidne Richter.

Quellen