Ich und du

Friedensliteratur - Anti-Kriegsliteratur
Friedensliteratur: Schrecken des Krieges

Ich und Du - Soldat und Mörder?

von Gerhard Zwerenz

Meine erste Kriegsgeschichte war ein Tatsachenbericht aus der Zeit des Jahreswechsels 1943/44, hier ist sie:

Im Morgengrauen sollte ein Spähtrupp losgehen und erkunden, wo die eigenen Leute lagen und der Feind sich befand. Es wurde spät hell, ich hatte tief geschlafen, aber zu kurz, als wir loszogen. Der zweite, der bestimmt worden war mitzukommen, ein schmächtiger Hamburger, hieß Eberhard und zeigte mir beim Weggehen eine Pistole, für alle Fälle, sagte er. Offenbar vertraute er seinem Karabiner nicht so ganz.

Wir gingen anfangs vorsichtig nach vorn, bald verloren wir die Lust an der Schleicherei. Was soll's, meinte Eberhard, wenn die Amis mich schnappen, dann... Er blickte mich dabei lauemd von der Seite an. Aha, da wollte jemand meine Reaktion testen. Ich blieb vorsichtig. Wußte man denn, ob es ehrlich gemeint war? Vielleicht sollte ich nur herausgelockt und dann in die Pfanne gehauen werden. Ich gab keine Antwort, blieb stehen, hielt einen Finger an die Lippen und tat so, als hätte ich etwas bemerkt. Tatsächlich, dort war Bewegung. Ich warf mich nieder. Wir lagen und lauschten, und als ich wieder zu Eberhard hinblickte, hatte er die Knarre weggeworfen, hielt die Hände hoch, und vor ihm sah ich einen riesenhaften Kerl. Eberhard meinte es also doch ehrlich: Er ergab sich. Eine prima Gelegenheit, dachte ich, wollte meine Knarre wegwerfen, da hob der riesenhafte Kerl dort vor Eberhard seine Waffe und rammte ihm das Bajonett in den Hals. Ich hörte einen krächzenden Laut, etwas Rosarotes sprang aus dem Hals hervor, fast wie Leuchtspurmunition, es war helles Blut. Der Aufgestochene fiel nicht, blieb aus irgendwelchen Gründen stehen, während der Amerikaner sich bemühte, das Bajonett aus Eberhards Hals herauszuziehen, wobei er sein Opfer nun, wie der Soldat es lernt, mit Tritten traktierte. Man rammt eben seinem Feind das Bajonett in den Bauch oder zwischen die Rippen, aber nicht in den Hals. Er versuchte noch immer, sein Bajonett freizukriegen, es knarrte und knirschte, vielleicht hatte sich der Stahl in der Wirbelsäule verfangen, der Tote sank zu Boden, jetzt trat der Ami seinem erlegten Feind, ganz nach dem Reglement, auf die Brust und wuchtete die Waffe heraus. Das hatte etwas zu lange gedauert, mir war klargeworden, was einem blüht, der sich diesem Gemütsmenschen ergibt, ich legte an, sah einen massigen Schädel in der verlängerten Linie von Kimme und Korn und drückte ab, und wo dem Feind ein Stück Ohr unterm modisch schräg aufgesetzten Helm hervorlugte, klaffte gleich ein Loch, aus dem eine Blutfontäne heraussprang wie vorher aus Eberhards Hals. Der Amerikaner sank langsam in die Knie, legte seine Knarre vor sich auf die Erde und verbeugte sich Richtung Osten, so halb kniend hielt er sich, ich sprang hin, hielt ihm den Karabiner an den Hinterkopf und schoß ein zweites Mal. Es gab einen dumpfen Knall, mir flogen Schädelknochen, Gehirnmasse und Fleischfetzen ins Gesicht, ich konnte nichts sehen, warf mich auf den Boden, griff nach Gräsern und wischte mir das Zeug aus den Augen. Endlich brach ich Eberhards Erkennungsmarke ab, steckte sie ein und stapfte zurück.

*

Soweit meine erste Kriegsgeschichte. Die zweite schrieb ich 1960, als ich in Köln bei Lesungen vor Klassen in verschiedenen Altersstufen feststellte, dass es zum Thema Krieg nichts gab, was für junge und ältere Schüler paßte. So entstand die Eskalationsstory "Nicht alles gefallen lassen":

 

Meine kleine Satire trug mir immer mal wieder Ärger  wegen Verdachts auf Pazifismus ein. Seit vier Jahrzehnten wird sie tausendfach nachgedruckt und für den Unterricht in Deutsch und Religion verwendet. Sie ist mein anhaltender Schulbuch-Bestseller, auch im Ausland bis hin nach Australien, nur in den USA nicht, was keinen verwundern sollte. Im Internet kursiert sie besonders in Vorkriegszeiten.

Bei aller Freude über die weite Verbreitung meiner kurzen Story bin ich mitunter traurig, scheint sie doch zeitlos aktuell zu sein. Mich erinnern beide Kriegsgeschichten ständig daran, wie schnell der Soldat zum Mörder werden kann.

Friedensliteratur: Rezeption
Friedensliteratur: Anti-Kriegsliteratur

 

Lisa Meyer zu Hörste, Pastorin, sagt:

Ich finde "Ich und du - Soldat und Mörder" von sehr eindrucksvoll, eben weil sie so schrecklich ist. Der Satz, der mir von der Unterseite nicht mehr aus dem Kopf geht, ist allerdings aus dem Kommentar von Zwerenz zu der erfundenen Geschichte "Nicht alles gefallen lassen": "Im Internet kursiert sie (die Geschichte) vor allem in Vorkriegszeiten."
Das kann ja nur heißen: Wenn ein Konflikt drauf und dran ist, zu eskalieren und zu einem Krieg zu werden, dann wird die Geschichte in der entsprechenden Region vermehrt gelesen und verbreitet - und das vermutlich von den Menschen, die nicht mit entscheiden können, ob es Krieg gibt oder nicht. Also scheint mir, dass es ein Ausdruck von Angst und Hilflosigkeit ist, wenn man die Geschichte in einer solchen Situation verbreitet. Das steigert meine Betroffenheit irgendwie noch.

Quellen

Lisa Meyer zu Hörste, Pastorin

 

http://www.sopos.org/aufsaetze/3eb29ffd2803d/1.phtml

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